Egal wo, man liest und hört seit knapp einem Jahr die Klagen von Lehrkräften und Eltern, dass die Schüler zu viel „Stoff“ verpassen, dass sie nicht motiviert seien und dass sie zu einer „Lost Generation“ werden, wenn nicht schleunigst der Präsenzunterricht wieder beginnt. Dabei wird das Lernen in Präsenz in der Schule oft idealisiert dargestellt. Doch war es wirklich so erfolgreich? Oder hatte nur die Lehrkraft das subjektive Gefühl, ihren Job getan zu haben, wenn x Stunden vorbereitet und „gehalten“ und dann Klassenarbeiten darüber geschrieben wurden?
Die Verherrlichung des Präsenzunterrichts würde ich basierend auf meiner eigenen Erfahrung als eine Reaktion auf die Tatsache interpretieren, dass die Corona-Pandemie die Schwachstellen unseres Bildungssystems ins Rampenlicht gezwungen hat. Um eine realistische Einschätzung handelt es sich jedoch nicht, denn wir beklagen uns seit Jahren darüber, dass die Leistungen der Lernenden zurückgehen. Doch anstatt der Ursache auf den Grund zu gehen, bombardieren wir die Lernenden mit noch mehr Übungsmaterialien, denn während die Ursachenforschung uns dazu zwingen würde, unsere Rolle und unsere erlernte didaktisch-pädagogische Tätigkeit zu hinterfragen, bestätigt uns das Erstellen von Übungsmaterialien darin, dass wir unsere Aufgabe beherrschen und die Lernenden mit unserem Wissen unterstützen. Das ist eine absolut normale und menschliche Haltung, denn als Lehrkräfte wurden wir so sozialisiert und es ist absolut legitim, dass wir uns entsprechend verhalten – zumal uns das System, in dem wir leben und arbeiten, nur ansatzweise zu verstehen gibt, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sich so stark geändert haben, dass wir umdenken müssen. Denn es gibt zwar Bildungspläne, die der KMK-Strategie „Bildung in der Digitalen Welt“ Rechnung tragen, doch wird im Alltag nur selten eingefordert, dass diese neuen Kompetenzen berücksichtigt werden. Dass wir aus diesem Grund auch das subjektive Gefühl haben, dass wir unseren Job gemacht haben, wenn wir unsere Stunden vorbereitet und „gehalten“ und eine Leistungsüberprüfung durchgeführt haben, ist nicht erstaunlich. Zwar haben wir unseren Beruf ergriffen, weil wir jungen Leuten gerne dabei helfen möchte, erwachsen zu werden und für ihre Zukunft gewappnet zu sein, aber die Prüfungskultur, die uns umgibt, gibt uns zu verstehen, dass dies unsere primäre Pflicht ist.
Schauen wir uns einmal an, was passierte, als im März 2020 die Schulen in Deutschland zum ersten Mal geschlossen wurden. Die erste Reaktion vieler Lehrkräfte war in diesem Moment, Arbeitsblätter und Aufgaben zusammenzustellen, die den Lernenden per Email, Moodle oder auch ausgedruckt zur Verfügung gestellt wurden. Die Gründe für dieses Vorgehen waren vielfältig: Aufgaben und Arbeitsblätter waren schnell greifbar und den Lernenden bereits als Methode bekannt, es war verhältnismäßig wenig Technik nötig und die Korrektur ist einfach und kann durch Lösungsblätter unterstützt werden. Die Folge dieses Vorgehens jedoch war häufig eine große Frustration: Die Lernenden haben ihre Aufgaben nicht erledigt und sind abgetaucht, weil sie nicht wussten, was sie tun sollten, sie gelangweilt waren und ihnen die Relevanz der Aufgaben nicht klar war. Die Lehrkräfte hingegen fühlten sich ineffektiv und machtlos, weil sie das Gefühl hatten, ihre Aufgabe nicht zu erfüllen. Die Antwort auf diese Frustration war vielerorts schnell gefunden: Videounterricht nach Stundenplan. Schließlich gab es zum einen mittlerweile (mehr oder minder gut) funktionierende technische Lösungen und die Eltern erwarteten auch, dass der Nachwuchs versorgt ist. Die Videokonferenzen bestanden oftmals aus Lehrervorträgen, ggf. sogar mit Tafel, einem Unterrichtsgespräch, in dem die Lernenden Fragen der Lehrkräfte beantworteten bzw. beantworten sollten, und wie bereits vorher Arbeitsblätter und Aufgaben, die erledigt und besprochen wurden. Die Folge dieser neuen Art des Fernunterrichts war jedoch – anders als erwartet – nach wie vor Frustration: Technische Probleme behinderten den Unterricht, der Datenschutz sorgte dafür, dass viele Bildschirme schwarz blieben. Zudem waren die Lernenden auch bei (vermeintlicher) Anwesenheit eher passiv, manche sorgten für unangemeldeten und unangenehmen Besuch Fremder in den Videokonferenzen. Die Lehrkräfte fühlten sich nach wie vor machtlos und hielten einen Monolog vor einem schwarzen Bildschirm. Doch lassen sich die Passivität und die bewussten Störungen der Lernenden wirklich auf die Technik und die nicht physische Präsenz im gleichen Raum schieben? Schließlich haben wir es mit einer Generation zu tun, für die der reale und der virtuelle Raum eine fließende Grenze haben. Oder gibt es andere Gründe dafür, Gründe die auch in der Schule für genau die gleichen Verhaltensmuster sorgen und denen man Abhilfe schaffen kann, egal ob man nun ortsgebunden oder ortsunabhängig mit Lernenden arbeitet?
Um diese Fragen zu beantworten, kommt man nicht umhin, die Situation aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und neutral zu analysieren. Denn wenn Lernende passiv sind, stören, oder keine (guten) Leistungen erzielen, dann lohnt es sich immer, den Gründen auf den Grund zu gehen. Auch ist zu definieren, was Leistung bedeutet.
In den kommenden Wochen werde ich deshalb weitere Artikel zu diesem Thema veröffentlichen und gesellschaftliche, psychologische, pädagogische und didaktische Aspekte beleuchten, um anschließend Strategien zu beschreiben, wie Lernen gelingen kann, und dies ortsgebunden, ortsunabhängig, in hybriden Lernsettings oder im Blended Learning. Dies geschieht in der Hoffnung, Impulse zu geben, die dabei helfen können, die eigenen Praktiken zu reflektieren – ohne jedoch einen wissenschaftlichen Anspruch geltend zu machen oder zu behaupten, ich hätte den heiligen Gral gefunden.
Diese Artikel beruhen auf meiner knapp 15-jährigen Erfahrungen als Lehrerin, meiner mittlerweile mehr als 20-jährigen Erfahrung in der Erwachsenenbildung und auf einem Zertifikatskurs, an dem ich vor Kurzem auf der Plattform EdX teilgenommen habe.
Bis zu Beginn meines Referendariats hatte ich nur mit „willigen“ Lernern zu tun, sowohl als Nachhilfelehrerin als auch bei meiner Tätigkeit in der Volkshochschule. Als ich mein Referendariat begann, machte ich zum ersten Mal die Erfahrung, dass Lernende unwillig waren und ständig den Unterricht störten. Auch nahm ich wahr, dass dies vor allem dann geschah, wenn ich eine gut vorbereitete Stunde „hielt“, also Stunden so gestaltete, wie man es mir beibrachte. In den Phasen, in denen ich jedoch Projekte mit den Jugendlichen durchführte, um das Gelernte zu vertiefen, hatte ich diese Probleme nicht. Hinterfragt habe ich dies jedoch damals nicht und ich verbrachte noch eine ganze Anzahl an Jahren damit, Strafarbeiten zu verteilen und mich über Desinteresse und Störungen aufzuregen – bis ich mir und den betroffenen Jugendlichen einmal die Frage stellte, wieso sie sich so verhielten. Daraus resultierte, dass ich versuchte, die Minimalanforderungen des Systems mit interessanten (Mini)Projekten zu verbinden, die Handlungsorientierung enthielten und die Autonomie der Lerner förderten. In seltenen Fällen konnte ich auch größere Projekte, wie zum Beispiel ein virtuelles Austauschprojekt und austauschbegleitende Projekte, mit den Lernern zusammen durchführen. Vieles davon beruhte nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auf Trial and Error, auf einem Bauchgefühl, das ich nicht weiter erklären konnte, und auf der Tatsache, dass ich Erfolge bei den Lernern feststellte – und zwar nicht nur fachlich, sondern auch überfachlich.
Kürzlich nahm ich am EdX-Kurs „Deep Learning Through Transformative Pedagogy“ der University of Queensland teil und erwarb dort ein Zertifikat. Der Kurs bestand teilweise aus Reflexionsaufgaben der eigenen Praxis, angelehnt an wissenschaftliche Beiträge und Erfahrungsberichte aus Australien. Durch den Kurs, der so spannend war, dass ich ihn innerhalb von 4 Tagen abgeschlossen hatte, wurde mir klar, dass mein Bauchgefühl richtig war und zusätzlich wurden mir wissenschaftliche Grundlagen vor Augen geführt, die es mir fortan ermöglichen, meine langjährige Überzeugung zu untermauern.
PS: Wie immer soll sich niemand angegriffen fühlen von meinen Ausführungen. Mir ist absolut bewusst, dass die Lehrkräfte seit gut einem Jahr noch weit mehr leisten als sie dies schon vor der Pandemie getan haben und dass es ganz tolle Kollegen gibt, die den Spagat zwischen den systemischen Anforderungen und dem Lernen sehr gut schaffen und die auch die Corona-Pandemie vorbildlich dadurch meistern. Der Artikel ist ein Kommentar, der – wie viele meiner Blogposts – eine Tendenz in der Gesellschaft widerspiegelt und reflektiert.