Die Mär, dass die „Generation Z“, im amerikanischen Sprachraum auch gerne als „iGeneration“ bezeichnet, Digital Natives seien, hält sich hartnäckig. Von der darauffolgenden Generation, den „Alphas„, erwartet man, dass ihr Leben so sehr mit Technologie verknüpft ist, dass sie anders lernen und über eine breite Medienkompetenz verfügen. Doch gibt es einen Unterschied zwischen dem Aufwachsen mit Technologien, der damit verbundenen Wischkompetenz und dem Fehlen von Berührungsängsten und dem Bewusstsein darüber, wie man diese Technologie gezielt einsetzen kann, wie man sie zur Teilhabe an der Gesellschaft nutzen kann und wie sie die Gesellschaft beeinflusst. Um eine persönliche Analogie zu ziehen: Das wäre als ob man erwarten würde, dass ich nur weil ich mit einer elektrischen Waschmaschine aufgewachsen bin, wissen müsste, wie man sie so bedient, dass die Wäsche den Waschgang sauber und in seiner originalen Form und Farbe überlebt. Zum Leidwesen meiner Mutter trifft dies jedoch ebenso wenig zu wie die Gen Z oder die Alphas Digital Natives sind.
Die Annahme, dass es Digital Natives gebe, dürfte zwei Gründe haben: Zum einen müsste man sich – gäbe es sie wirklich – als Lehrkraft nicht mit der fortschreitenden Digitalisierung und ihrer Auswirkung auf die Gesellschaft beschäftigen, was natürlich sehr bequem wäre. Zum anderen dürften viele Menschen tatsächlich davon ausgehen, dass Kinder, die in den letzten Jahren geboren oder sozialisiert wurden, Medienkompetenz in die Wiege gelegt bekommen haben.
Dass dies nicht hinterfragt wird, könnte daran liegen, dass diese Menschen selbst eine gewisse Berührungsangst in Bezug auf digitale Medien haben, daher nicht kompetent mit ihnen umgehen können und zur „Erkenntnis“ gelangen, dass die Jugend wirklich alles darüber weiß.
Laut Studien wie der JIM-Studie, aber auch aus dem Alltag vieler Lehrkräfte vor und besonders seit der Ankunft der Corona-Pandemie ist hinlänglich bekannt, dass die Fähigkeit, mit den PC (und digitalen Endgeräten allgemein) umzugehen, stetig zurückgeht. Dies ist vermutlich unter anderem darauf zurückzuführen, dass Jugendliche das Internet vornehmlich über das Smartphone nutzen, aber auch dass die Altersgruppe der über 16-Jährigen, die eher Laptops und PCs besitzen, damit vermutlich vor allem eins tun: Spielen und Netflixen.
Unternehmen setzten jedoch nach wie vor Computer und Office-Programme ein und erwarten solche Kompetenzen von ihren Mitarbeitern. Dies ist klar ersichtlich aus Stellenangeboten, in denen der Umgang mit dem Computer ganz selbstverständlich mit zum Anforderungsprofil auch für Berufsanfänger gehört und selbst an Universitäten gibt es teils strenge formale Vorgaben für Seminar- und Prüfungsarbeiten. Eine handschriftliche Hausarbeit würde mit ziemlicher Sicherheit heute abgelehnt. Während die Bildung zwar nicht im Dienste der Wirtschaft steht, so steht sie absolut im Dienste der heutigen Jugend und ihrer Zukunftschancen und sie soll dazu maßgeblich beitragen, sodass die Kinder und Jugendliche von heute ihre (und unsere) Zukunft aktiv mitgestalten können. Ihnen den Umgang mit Computern nicht beizubringen, wäre daher genauso unverzeihlich wie ihnen keine grundlegende Medienkompetenz zu vermitteln.
In Studien wird der PC inzwischen selten oder nur ansatzweise separat vom Begriff „digitale Medien“ untersucht. Einen Computer zu bedienen erfordert jedoch ganz andere motorische und methodische Fähigkeiten als die Bedienung eines Smartphones bzw. einer App. D.h. diese Ebene kommt beim Umgang mit dem PC in Punkto Medienkompetenz noch erschwerend hinzu und bedarf eigentlich gesonderter Aufmerksamkeit – zumindest so lange wie die Interaktion mit Computern in ihrer heutigen Form in der Arbeitswelt noch von Relevanz ist.
Die internationale Medienkompetenz-Studie ICILS 2018 hat ergeben, dass Jugendliche 2018 nach wie vor hauptsächlich außerhalb der Schule digitale Medien nutzten und sich den Umgang damit also selbst angeeignet haben. In der Rangliste aller teilnehmenden Länder war Deutschland – wie auch 2013 – im internationalen Vergleich Mittelmaß. Zudem bestätigte die Studie erneut, dass in einer digitalisierten Gesellschaft die fehlende oder unzureichende Medienbildung in der Schule Chancenungleichheit verstärkt. Es hat also sowohl bildungspolitische als auch gesellschaftliche Bedeutung, dass das Lernen mit und das Lernen über Medien in den Schulalltag an allen Schularten integriert sind – so wie die Bildungspläne aller Länder es in Anlehnung an die 2016 veröffentlichte Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ der Kultusministerkonferenz verlangen. Durch Vermittlung von Medienkompetenz bei gleichzeitiger Personalisierung des Lernens würde Chancengleichheit wieder ins Reich der Möglichkeiten rücken. Autodidaktik im Medienkompetenzbereich ist nicht die Lösung und würde lediglich für weitere „peinliche[s]Studienergebnis[se]für Deutschland“ sorgen (s. Zeit Online zur ICILS-Studie 2013).
Die Gesellschaft verändert sich außerdem kontinuierlich – wie dies bereits seit Jahren postuliert wird.
„Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer (Um-)Welt auf, die häufig als mediendurchdrungen, mediengeprägt oder mediatisiert bezeichnet wird. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass Heranwachsende im Alltag faktisch in vielfacher Hinsicht von medialen Artefakten bzw. medialen Angeboten umgeben sind und mit diesen umgehen. Der Erwerb von (Welt-)Wissen, die Konstitution von Weltbildern und deren Reflexion finden heute insbesondere unter Nutzung von Medien statt, ebenso wie die Identitätskonstruktion oder der soziale Austausch.“
(Bardo Herzig: Medien im Unterricht, 2016. ZUSAMMENFASSUNG)
Was folglich nicht vergessen werden darf: es geht nicht nur um das Gerät selbst, sondern auch darum, was diese Technologie mit der Welt macht. Dazu gehört natürlich Grundwissen zu den Themen Datenschutz, Urheberrecht, Informationskompetenz, etc. aber auch kognitive Prozesse, die eng mit digitalen Medien verbunden sind. So ist Computational Thinking, die Kenntnis um Algorithmen und wie sie unsere Welt mitgestalten und die Problemlösefähigkeit anhand dieser Strukturen, ein wichtiger Bestandteil der Kompetenzen, die Kinder und Jugendliche erwerben müssen. Auch in diesem Bereich landete die deutsche Jugend bei der ICILS-Studie 2018 auf den mittleren Plätzen. Das Land der Dichter und Denker sollte höhere Ansprüche an sich haben …
Den Warnschuss der ICILS-Studie 2013 hat das Bildungssystem jedoch einfach überhört, ebenso den Streifschuss der ICILS-Studie 2018 – und so wurde mitten in der Corona-Pandemie 2020 auf allen Ebenen viel gejammert: Die Infrastruktur war nicht vorhanden, viele Lehrkräfte fühlten sich verlassen und überfordert, die Jugendlichen waren ebenso unfähig, flexibel auf diese Situation zu reagieren – und trotzdem spricht man weiterhin fröhlich von Digital Natives. Anstatt endlich Bildung neu zu denken und zu leben, bewegen wir uns auf institutioneller und politischer Ebene nach wie vor in der Steinzeit. Wenn nicht bald etwas passiert, klaffen die Lebensrealität der Jugendlichen und die Bildung immer weiter auseinander und diese Kluft wird den Jugendlichen einen immer größer werdenden Eindruck vermitteln, dass das, was sie in der Schule lernen, für ihr Leben nicht relevant ist. In einer leistungsorientierten Welt wird schnell nach dem „Mehrwert“ von Veränderungen gefragt. Doch Leistung ist relativ und von der Realität losgelöste Leistungsdefinitionen haben keinerlei Wert für die Zukunft der heutigen Jugend. Viel wichtiger ist es, eine neue Lernkultur zu begründen, sodass Lernenden das Lernen Spaß macht und sie die Relevanz dessen, was sie in der Schule lernen, für ihr Leben und ihre Zukunft erkennen. Vielleicht ist es deshalb auch an der Zeit, die heutigen Leistungskriterien und -definitionen zu überdenken und an die Welt von heute anzupassen.