Bei der ersten Online-Fortbildung, für die ich mich bein Projekt Virtuelle PH angemeldet hatte, ging es um Neurodidaktik. Ich konnte mir unter diesem Begriff nur grob etwas vorstellen, war jedoch – zurecht – davon überzeugt, dass ich nach der eLecture sicherlich eine bessere Vorstellung davon haben würde.
Es ging im Allgemeinen darum, wie man SchülerInnen dazu bringt, die Unterrichtsinhalte so zu verarbeiten, dass es zu einem Lernzuwachs kommt. Da der traditionelle Unterricht alles anderes als gehirnfreundlich sei, müsse man Wege finden, um neue Informationen so in die Gehirnstruktur einzubinden und mit schon vorhandenem Wissen zu vernetzen, dass es sich im Endeffekt um neu angeeignetes Wissen handelt.
Möglichkeiten, um diesen Lerneffekt zu erreichen, gebe es viele. So könne man zum Beispiel die SchülerInnen dazu animieren sich selbst Notizen zu machen anstatt ein Tafelbild abzuschreiben. Der Heftaufschrieb sei lediglich ein Spiegelbild des Gehirns: sei er chaotisch, so sehe es im Gehirn nicht anders aus, herrsche eine bestimmte Ordnung, so herrsche auch im Gehirn diese Ordnung. Da jeder Schüler und jeder Schülerin jedoch individuelle Denkmuster habe, sei es sinnlos, ihm oder ihr die Denkmuster des Lehrers oder der Lehrerin (wie sie sich meist automatisch im Tafelbild widerspiegeln) aufzuzwingen. Genau aus demselben Grund sei es im Übrigen eventuell im Fremdsprachenunterricht auch erträglicher, die SchülerInnen selbst Aufgaben erstellen zu lassen, die die Klassenkameraden dann lösen, anstatt mit ihnen Aufgaben aus dem meist zum Schulbuch passenden Übungsheft zu machen um bestimmte Strukturen zu festigen. Ebenso hilfreich sei es, wenn man mehrkanaliges Lernen bevorzuge und den SchülerInnen die Möglichkeit gebe, andere Talente (als die z.B. nicht sehr ausgeprägte Sprachbegabung) im Rahmen des Unterrichts zu offenbaren. Dieses positive Gefühl könne dann in einem gewissen Maße zu einem echten Lernerfolg führen (z.B. wenn man musikalische Elemente [Rap, etc.] in den Unterricht einbaue um unregelmäßige Verben zu festigen).
Die Tür zum Langzeitgedächtnis sei so groß wie ein Nadelöhr und es fänden nur Informationen ihren Weg auf die andere Seite, die sinnvoll erscheinen. Erkenne also ein Schüler oder eine Schülerin, wieso die neue Information wichtig sei, könne sie auch ins Langzeitgedächtnis gelangen. Die Produktion der für die Abspeicherung im Langzeitgedächtnis nötigen chrmischen Stoffe könne nicht erzwungen werden und Fakten werden nur durch Verbindungen die unter ihnen und zwischen ihnen und bereits im Gedächtnis vorhandenen Informationen hergestellt werden können zu Wissen. Somit sei das Gehirn also weniger der sprichwörtliche Schwamm als vielmehr ein Sieb.
Darüber hinaus müsse man – im Sinne des Konstruktivismus – aktiv werden um zu lernen. Zum Beispiel im Fremdsprachenunterricht könne man sich neue Vokabeln nur aneignen, sie „zähmen“, indem man sie benütze und durch den Gebrauch zum Verstehen gelange. Dies ginge beispielsweise aus den Theorien Wygotskis („Denken und Sprechen“) hervor. Somit sei eine Verarbeitung des neuen Sprachschatzes durch kreative Aufgaben einer rezeptiv-repetitiven Aufgabenstellung vorzuziehen. Dies könne beispielsweise durch ein relativ einfaches Web-Quest geschehen, da im Mittelpunkt nicht die maximale sprachliche Forderung der SchülerInnen stehe, sondern die Förderung der Verarbeitung neuer Vokabeln.
Im Anschluss wurde noch zur Diskussion gestellt, wie groß der Nutzen eines Lehrervortrags einzuschätzen sei. Das Fazit der Diskussion war, dass ein Lehrervortrag großen Nutzen haben kann (z.B. Schulung von Hörverständnis und Konzentrationsfähigkeit), sofern es sich um einen guten Vortrag handelt, der die SchülerInnen zum Verarbeiten der gehörten Informationen anregt.
Schließlich wurde noch darauf hingewiesen, dass Lernen ein Erlebnis sein müsse, weshalb man nicht umsonst von „Lernen mit Hand, Kopf, Ohr und Herz“ spreche. So könne zum Beispiel eine gut organisierte Projektarbeit zu erfolgreichem Lernen führen, ebenso wie der Einsatz von Musik (z.B. zum Einstieg in die Stunde), wodurch alle Gehirnareale aktiviert werden. Die erfolgreich Verarbeitung dieser (Unterrichts)Erfahrungen sei abhängig von Emotionen die geweckt werden. Allerdings waren wir uns einige, dass es manche Unterrichtsinhalte – wie z.B. unregelmäßige Verben – gibt, die trotz allem zumindest teilweise auswendig gelernt werden müssen.
Obwohl mir der Vortrag einleuchtete, so stehe ich gewissen Punkten dennoch skeptisch gegenüber, wenn ich die Realität dem Ideal gegenüberstelle.
So lieben manche Klassen Frontalunterricht über alles und stöhnen bei der Ankündigung von Projekt- oder Gruppenarbeit einhellig auf. Dies kann zum einen natürlich daran liegen, dass es bequemer ist, einfach zuzuhören, zum anderen jedoch auch daran, dass manche Klassen von Gruppenarbeit und schüleraktivierenden Methoden (besonders von Referendaren) geradezu übersättigt sind. Oder aber Gruppenarbeit heißt für sie, dass nur ein oder zwei SchülerInnen etwas arbeiten und die anderen sich zurücklehnen. In diesem Fall wäre eine Projektarbeit – durch die negativen Emotionen, die damit verbunden sind – vermutlich eher nicht lernfördernd. Die Frustration der engagierten SchülerInnen kann noch steigen, wenn es für die Ergebnisse der Gruppenarbeit Noten gibt (was für nicht wenige SchülerInnen der notwendige Ansporn ist, um überhaupt etwas beizutragen), da es sich – zumindest zum Teil – um eine Gruppennote handelt, die auf der Arbeit gerade dieser engagierten SchülerInnen basiert, während die passiven SchülerInnen fürs Nichtstun belohnt werden.
Des Weiteren werden zwar unsere Methoden nicht vom Bildungsplan vorgegeben, jedoch wird von uns erwartet, dass wir den SchülerInnen in einer relativ kurzen Zeit (im Fremdsprachenunterricht in BW ca. 3-4 Wochenstunden) relativ viele nicht gerade deutlich definierte „Kompetenzen“ vermitteln. Die Inhalte scheinen in der heutigen kompetenzorientierten Welt zweitrangig zu sein, sind jedoch im Prinzip genauso wichtig. Die Balance zwischen Kompetenzen und Inhalt zu halten ist äußerst schwierig, greift man nicht hin und wieder auf altbewährte Methoden und Frontalunterricht zurück. Zu glauben, dass SchülerInnen jeden Tag wissbegierig und lernhungrig in die Schule gehen und zwischen fünf und neun Stunden konzentriert den willkürlich aufeinander folgenden Unterrichtsstunden folgen können, zeugt für mich von Realitätsfremdheit.
Darüber hinaus, und dies gilt vielleicht im besonderen Maße für den Fremdsprachenunterricht, sehe ich das Problem, dass SchülerInnen aus ganz verschiedenen Gründen im Laufe der Jahre kleinere oder größere Wissenslücken anhäufen, die man im Rahmen des normalen Unterrichts nur bedingt füllen kann. Schon allein dies kann zu einem großen Leistungsgefälle in einer Klasse führen und je größer die Zahl der mittelmäßigen bis schwachen SchülerInnen ist, desto mehr werden sie durch Projektarbeit in der Fremdsprache überfordert und frustriert. Diesen Teufelskreis von Überforderung und Frustration in einem Schulsystem zu durchbrechen, welches – im Sinne einer Allgemeinbildung – alle SchülerInnen dazu verpflichtet zwei Fremdsprachen (meist Englisch und Französisch) bis zur 10. Klasse zu lernen, halte ich für äußerst schwierig. Ein einzelner Lehrer kann vermutlich an der Aufgabe, Frustration in Begeisterung zu verwandeln, dabei die vom Bildungsplan geforderten Lerninhalte und Kompetenzen zu vermitteln und gleichzeitig jedem einzelnen Schüler und jeder einzelnen Schülerin gerecht zu werden, nur scheitern.
Schließlich finde ich zwar die Idee, Musik im Unterricht einzusetzen und die SchülerInnen dadurch zu animieren „nebenbei“ zu lernen, im Grunde nicht verwerflich – setze ich doch selbst gerne eine Vielzahl von aktuellen französisch- und englischsprachigen Lieder im Unterricht ein – jedoch allgemein davon auszugehen, dass jede Klasse begeistert sein wird, wenn man sie dazu auffordert mitzusingen oder zu tanzen, wäre ein Fehler. Ich denke, dass es auch hier wichtig ist, die Unterrichtsmethoden an die Klasse anzupassen.
Unterrichtet man z.B. eine 10. Klasse, bestehend aus 25 Jungen und 5 Mädchen, die mit wenigen Ausnahmen seit Jahren nur mit großer Frustration den Französischunterricht an einem allgemeinbildenden Gymnasium mit naturwissenschaftlicher Orientierung über sich ergehen lassen, so sollte man auf dem Boden der Tatsachen bleiben und denjenigen, die in der Kursstufe Französisch wählen werden, die notwendige Unterstützung auf diesem Weg (z.B. durch Wiederholung grundlegender Dinge) zu geben, während man versucht, dem Gros der SchülerInnen wenigstens den Sinn des jahrelangen Französischunterrichts zu vermitteln. So kann man ihnen beispielsweise die Möglichkeit geben, ihre Noten durch Engagement bei kleineren Projekten (natürlich relativ zur tatsächlichen Leistung) zu verbessern oder ihnen zeigen, wie viel sie in Wirklichkeit eigentlich verstehen, indem man ihnen Filme zeigt, die sie zwar sprachlich überfordern, die jedoch inhaltlich trotzdem verständlich bleiben. Ebenso kann man sie über kleinere Projekte mit Partnern im Nachbarland – z.B. kollaboratives Schreiben über Twitter – dazu animieren, mit „echten Franzosen“ zu kommunizieren, die sie auch ohne perfekte Grammatikkenntnisse verstehen werden. So beenden sie vielleicht das zehnte Schuljahr nicht mit einem Groll gegen Französisch, den sie ihr ganzes Leben lang mit sich herumschleppen, sondern nehmen die eine oder andere positive Erinnerung mit auf ihren Weg ins „Leben nach Französisch“.
Trotz meiner Skepsis fand ich den Vortrag im Allgemeinen sehr gelungen und überzeugend und werde versuchen, das Gelernte – ich kann aufgrund der erneuten Beschäftigung mit dem Thema durch das Verfassen dieses Blogeintrags davon ausgehen, dass es sich um angeeignetes Wissen handelt, welches das Nadelöhr zum Langzeitgedächtnis erfolgreich überwunden hat 🙂 – zumindest bruchstückhaft und experimentell anzuwenden.
Die Aufzeichnung der eLecture befindet sich im eLectures Archiv (Datum: 15/11/2011).
Literaturhinweise zum Thema waren:
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Manfred Spitzer: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens (2002)
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Manfred Spitzer: Musik im Kopf: Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk (2002)
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Manfred Spitzer: Nervenkitzel. Neue Geschichten vom Gehirn (2006)
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Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (2011)
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Gerhard Roth: Bildung braucht Persönlichkeit: Wie Lernen gelingt (2011)
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Martin Korte: Wie Kinder heute lernen: Was die Wissenschaft über das kindliche Gehirn weiß – Das Handbuch für den Schulerfolg (2009)
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Sabine Czerny: Was wir unseren Kindern in der Schule antun: …und wie wir das ändern können (2010)
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Sam Wang et al.: Welcome to Your Child’s Brain: How the Mind Grows from Conception to College (2011)
Bildquellen
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