Es vergeht keine Woche, in der nicht irgendwo in den Weiten des Internets ein neuer Hinweis oder Aufschrei zu finden ist, der behauptet, dass digitale Medien gefährlich für jungen Menschen seien. Dass auch Lehrerverbände nicht selten diese Ansicht teilen, finde ich persönlich äußerst bedenklich und es war vor einigen Jahren ausschlaggebend für meinen Austritt aus dem Philologenverband. Doch stimmt es wirklich, dass digitale Medien so gefährlich sind, dass man die Jugend davon fernhalten muss oder ist es weit gefährlicher, wenn man Jugendliche mit aller Gewalt davon fernhalten möchte? Ist Feuer gefährlich? Ja, aber hat es unsere Vorfahren in ihren Höhlen trotz der mit ihm verbundenen Gefahren nicht auch in kalten Nächten gewärmt und vor dem Erfrieren bewahrt?!
Digitale Medien sind nicht mehr oder weniger „gefährlich“ als andere Medien, die schon längst ganz selbstverständlich zum Alltag von Jung und Alt gehören. Die Angst vor dem Neuen, vor Veränderung, ist vielmehr ein seit jeher vorhandener Charakterzug des menschlichen Wesens. Sobald etwas Neues am Horizont erscheint, reagiert der Mensch ganz reflexartig mit Ablehnung und dem Wunsch, am Alten festzuhalten. Diese Skepsis gegenüber dem Neuen kann ganz unterschiedliche Formen annehmen und je nach gesellschaftlichem Umfeld und Individuum mehr oder weniger ausgeprägt sein.
So bereitete die Industrialisierung im späten 18. Jahrhundert in England dem Volk Sorge, das Theater zu Shakespeares Zeit wurde in die Randbezirke von London verbannt, der aufkommende Impressionismus wurde anfangs verspottet, diverse neue literarische Gattungen abgelehnt. Dasselbe geschah beim Aufkommen der ersten Massenmedien, allen voran dem Buchdruck: denn der Buchdruck machte nicht nur die Verbreitung der Bibel möglich, sondern auch die von „unerwünschten“, kritischen Schriften. Auch weitere „neue“ Medien wie die Fotografie, das Telefon, der Film, das Radio und das Fernsehen wurden nicht sofort mit offenen Armen willkommen geheißen: man denke nur an die panische Reaktion auf die Ausstrahlung von George Orwells Hörspiel „Krieg der Welten“ im britischen Radio im Jahre 1938 oder den zugleich von Sorge begleiteten Spott, den das erste Telefonbuch in Deutschland erntete.
Am 14. Juni erscheint das erste Telefonbuch, von dem jedoch keine vollständige Ausgabe mehr erhalten ist und das im Berliner Volksmund „Buch der Narren“ heißt. Die neue Technik löst in der Bevölkerung neben Spott auch Bedenken aus, die wir heute ganz ähnlich aus der Diskussion um Windräder kennen, neben ästhetischen Gesichtspunkten sorgt man sich vor allem über vermeintliche Gefahren, so gibt es die Befürchtung, die Telefonmasten zögen Blitze an.
Deutsche Digitale Bibliothek
So ist es nur logisch, dass auch dem Computer, dem Mobiltelefon, dem Internet und dem Smartphone, sowie der sich dadurch verändernde Gesellschaft mit Skepsis und Ablehnung begegnet wurde und wird. Doch alle ehemals „neuen“ Medien sind mittlerweile nicht mehr Luxusgut sondern Massengut geworden und gehören zum „normalen“ Alltag, teilweise sogar zum Quintessenz der Bildung. Es ist abzusehen, dass dies auch für die momentan als neu geltenden Medien der Fall sein wird – Medien, die so neu inzwischen auch nicht mehr sind. Was jedoch nach wie vor „neu“ daran ist, ist der Umgang damit – und hier muss die Schule ihrer Verantwortung nachkommen, die Jugend auf die sich schnell verändernde Welt vorzubereiten und ihr die Kompetenzen mit auf den Weg zu geben, die sie benötigt, um die Zukunft – unsere wie ihre – aktiv mitzugestalten.
Denn auch wenn Medien per se nicht gefährlich sind, so kann jedes Medium missbraucht werden und der nicht reflektierte Umgang mit Medien kann durchaus zur Gefahr für das Individuum, die Gesellschaft oder sogar die Welt werden. Daher ist das Lernen mit Medien genauso wichtig wie das Lernen über Medien, Prävention ebenso wie die Nutzung der Potenziale, die digitalen Medien innewohnen. Dass sie schon längst Teil der Lebenswelt unserer Jugend sind, daran lässt allen voran die JIM-Studie seit Jahren keinen Zweifel mehr. Sich dieser Realität zu verwehren wäre weitaus gefährlicher als jedes Medium es sein könnte. Unter dem Deckmantel der Diskussion um den mit digitalen Medien verbundenen Datenschutz, der dem jüngsten Diskurs in den Medien zufolge in der Schule Priorität vor der Medienbildung haben soll, verbirgt sich nicht zuletzt die Angst einer fast ganzen Generation von Lehrkräften, die selbst nur unzureichend mit digitalen Medien umgehen können. Und genau aus diesem Grund müssen wir aktiv für Medienkompetenz auf allen Ebenen eintreten, anstatt darauf zu warten, dass wir auf die negativen Folgen mangelnder Medienkompetenz reagieren müssen. Ein potenzielles Problem zu ignorieren lässt es nicht verschwinden.
Klar ist damit jedoch auch, dass sich die Idee von Schule und Lernen in einer sich wandelnden Gesellschaft zum Schutz derselben drastisch verändern muss. So weist der Abschlussbericht zum TA-Projekt „Digitale Medien in der Bildung“ darauf hin, dass bereits 2010 eine Expertenkommission des Bundesministeriums für Bildung und Forschung empfahl,
dass eine von Digitalität geprägte Gesellschaft und Kultur höchste Priorität darauf richten müsse, auch über Medienbildung und Medienhandeln gesellschaftliche Teilhabe und Erwerbstätigkeit zu ermöglichen und damit einer drohenden digitalen Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken. (Abschlussbericht zum TA-Projekt „Digitale Medien in der Bildung“, S.27)
2015 beantwortet das sogenannte Digital Manifest, verfasst von neun international angerkannten Experten um Dirk Helbing, die Frage nach Erfolgsstrategien für die digitale Gesellschaft folgendermaßen:
Erstens sind völlig neue Bildungskonzepte gefragt. Diese sollten stärker auf kritisches Denken, Kreativität, Erfinder- und Unternehmergeist ausgerichtet sein als auf standardisierte Arbeitnehmer, deren Aufgaben in Zukunft von Robotern und Computeralgorithmen übernommen werden können. Die Ausbildung sollte auch den verantwortungsvollen und kritischen Umgang mit digitalen Technologien vermitteln. Denn der Bürger muss sich bewusst sein, wie sehr die digitale mit der physischen Welt verzahnt ist. Um seine Rechte effektiv und verantwortungsvoll wahrnehmen zu können, muss der Bürger ein Verständnis von ihnen haben, aber auch davon, welche Nutzungen illegitim sind. Umso mehr müssen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Bildungseinrichtungen der Gesellschaft dieses Wissen zur Verfügung stellen.
Die Verzahnung von digitaler und physischer Welt, die hier erwähnt wird, macht schließlich auch klar, dass es nicht darum geht, alle „alten“ Medien aus der Gesellschaft zu verbannen und sie durch die „neuen“ Medien zu ersetzen. Genauso wenig wie es darum geht, den bisher gültigen Bildungsbegriff durch einen neuen zu ersetzen. Die Gesellschaft ist das Produkt einer Entwicklung von Tausenden von Jahren. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt „neuen“ Medien wurden zuerst skeptisch beäugt, um dann jedoch zu einem selbstverständlichen Teil der Gesellschaft zu werden. Und auch wenn sie sich teilweise weiterentwickeln (wenn zum Beispiel das herkömmliche Fernsehen der Nutzung von Mediatheken und Streamingdiensten teilweise weichen musste), so bleiben ihre Grundideen nach wie vor Teil dieser neuen Entwicklungen. Es geht also nicht um eine Dichotomie des Entweder-Oder, sondern um eine sinnvolle Ergänzung der bestehenden Medienlandschaft, die sich mit der Gesellschaft zusammen verändert. All diejenigen, die das traditionelle Schulbuch bereits lautstark trauernd zu Grabe tragen, übersehen, dass ein Schulbuch ein Medium von vielen ist, welches zum Lernen eingesetzt werden, sich aber auch – über eine digitale Version mit multimedialen Inhalten hinaus – weiterentwickeln kann. Genauso wie der Bildungsauftrag entsprechend der jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen neu interpretiert werden muss. Doch muss auch bewusst bleiben, dass es bestimmte Medien, Praktiken und auch Ideen geben wird, die ihren Dienst getan haben und zu einer bestimmten Zeit obsolet werden. Das ist der Lauf der Natur und völlig in Ordnung.
Doch wie steht es heute um diese schon 2010 als notwendig erachteten Veränderungen? Mitten in der Corona-Pandemie machte das Hagener Manifest mit seinen 12 Thesen zum „New Learning“ deutlich darauf aufmerksam, dass sich auch Ende 2020 trotz vieler Hinweise darauf, dass das Bildungssystem massive Defizite aufweist, noch nicht viel – oder rein gar nichts? – getan hat und nach wie vor ein grundlegend neues Verständnis von Lernen zum gesellschaftlichen Konsens werden muss.
Unserem Bildungssystem fehlen noch immer innovative Konzepte, um in angemessener Geschwindigkeit auf digitale Transformationsprozesse reagieren zu können. Gesellschaftlich wie politisch müssen wir uns dringend von alten Denkstrukturen lösen und ein neues Verständnis von zeitgemäßem Lernen entwickeln. Lassen Sie uns gemeinsam an der Vision ‚New Learning‘ arbeiten!
(Prof. Dr. Ada Pellert, Rektorin der FernUniversität in Hagen)
Und auch wenn es noch lange viele Skeptiker und Menschen geben wird, die die digitalen Medien in der Schule verteufeln, so bedeutet dies nicht, dass all diejenigen unrecht haben, die von deren Nutzen und der Notwendigkeit, Medienbildung in der Schule zu vermitteln, überzeugt sind.
Um es mit George Bernard Shaws Worten auszudrücken:
Der vernünftige Mensch passt sich der Welt an. Der unvernünftige Mensch besteht darauf, dass sich die Welt nach ihm zu richten hat. Deshalb hängt jeder Fortschritt von dem unvernünftigen Menschen ab.
(Shaw, Maxims for Revolutionists, 1903)
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