Diesen Vorwurf habe ich seit Beginn meiner Laufbahn als Lehrerin vor allem von Eltern, jedoch auch von Kollegen gehört. Er sollte mich davon abbringen, digitale Medien beim Lernen von Fremdsprachen zu verwenden. Aber: Digitale Medien gehören zur Gesellschaft und müssen gerade deshalb ihren Platz auch in der Schule haben!
Natürlich nutzen Kinder und Jugendliche heute in ihrer Freizeit immer mehr digitale Medien (s. KIM 2018 und JIM 2020). Jedoch sind es laut der ARD-ZDF-Onlinestudie 2020 längst nicht mehr nur Jugendliche, die immer öfter digitale Medien nutzen, sondern es handelt sich um eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die der fortschreitenden Digitalisierung der Gesellschaft zuzuschreiben ist. Aus diesem Grund dürfen digitale Medien nicht aus der Schule verbannt werden, sondern müssen gerade dort ihren Platz haben.
Egal wie man persönlich zu Internet- und Smartphone-Nutzung steht, die heutige Jugend wächst in einer Welt auf, aus der die Digitalisierung nicht mehr wegzudenken ist. So urteilte übrigens unter anderem die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des deutschen Bundestags in ihrem sechsen Zwischenbericht bereits im Jahre 2013 (S.10). Doch gibt es auch heute, mehr als sieben Jahre später, noch viel Widerstand. Wie viele andere Bereiche, so ist auch der Bildungsbereich davon betroffen und muss sich beeilen, diesen (inzwischen schon nicht mehr ganz so) neuen an ihn gestellten Anforderungen gerecht zu werden, um den Anschluss nicht ganz zu verlieren – denn die Jugend hat sich im privaten und gedanklichen Bereich längst angepasst.
So schreibt Joel Stein 2013 in seinem Artikel „Millenials: The Me Me Me Generation“ im Time Magazine
I think in many ways you’re blaming millennials for the technology that happens to exist right now. Yes, they check their phones during class, but think about how long you can stand in line without looking at your phone. Now imagine being used to that technology your whole life and having to sit through algebra. […]
So, yes, we have all that data about narcissism and laziness and entitlement. But a generation’s greatness isn’t determined by data; it’s determined by how they react to the challenges that befall them. And, just as important, by how we react to them. Whether you think millennials are the new greatest generation of optimistic entrepreneurs or a group of 80 million people about to implode in a dwarf star of tears when their expectations are unmet depends largely on how you view change. Me, I choose to believe in the children. God knows they do.”
Dass Deutschland im internationalen Vergleich hinterherhinkt, ist spätestens seit der ICILS-Studie von 2013 eine nicht mehr zu leugnende Tatsache. Dort stellte sich heraus, dass unsere Achtklässler sich im Vergleich mit denen aus mehr als zwanzig weiteren Ländern in Punkto computer- und informationsbezogene Kompetenzen im Mittelfeld bewegen (S.16). Die Schlussfolgerung lautete:
„Perspektivisch ist davon auszugehen, dass Deutschland ohne eine konzeptionelle Verankerung digitaler Medien in schulische Lehr- und Lernprozesse unter Berücksichtigung des kompetenten Umgangs mit neuen Technologien im internationalen Vergleich auch zukünftig nicht über ein mittleres Leistungsniveau hinauskommen wird.“ (S.17)
Spätestens dieses ernüchternde Ergebnis hat die Regierung dazu veranlasst, Medienbildung in den Fokus zu nehmen. So wurde 2016 die KMK-Stategie „Bildung in der digitalen Welt“ veröffentlicht, um sich den Herausforderungen des digitalen Wandels in der Bildung zu stellen und ein Handlungskonzept für die zukünftige Entwicklung der Bildung anzubieten. Die darin enthaltenen Kompetenzen lehnen sich an den Digitalen Referenzrahmen von Europa an und wurden schnell in die Bildungspläne aller Länder integriert.
Bei diesen Kompetenzen geht es nicht nur um das Lernen mit Medien, welches der Tatsache folgt, dass die Medien, die früher vor allem für das informelle Lernen genutzt wurden, zunehmend Einzug in Kontexte des formellen Lernens halten. Als Beispiele hierfür nennt das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) in seinem Abschlussbericht „Digitale Medien in der Bildung“ Webvideos, Bildungs-Apps und Computerspiele, die Schüler zum Beispiel für die Hausaufgaben oder die Nachbereitung des Unterrichts verwenden. Neben dem Lernen mit Medien geht es bei der Medienkompetenz aber auch um das Lernen über Medien. Denn Informationen sind heute im Überfluss vorhanden, sodass u.a. die Informationskompetenz – das Wissen darum, wie man Informationen überprüft und Quellen bewertet – Teil der schulischen Bildung sein muss, aber auch das Wissen darum, wie Medien uns beeinflussen und wie wir unsere Daten schützen muss beleuchtet werden. Diese medien- und gesellschaftskritische Perspektive teilt auch Prof. Dr. Horst Niesyto von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg in einem im Januar 2017 in Medienpädagogik, Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung veröffentlichten Artikel.
Wer 2016 noch hoffte, dass die ICILS-Studie aus 2013 endlich für eine Veränderung des Lernens sorgen würde und positiv in die Zukunft blickte, wurde leider schwer enttäuscht. Im Dezember 2019 wurden die zentralen Ergebnisse der ICILS-Studie 2018 präsentiert – mit dem Untertitel
Stillstand in der digitalen Bildung seit 2013?
Ein verlinkter Artikel zu diesem Thema aus Die Zeit titelte.
„Die Schule ignoriert die Lebenswelt der Schüler“
Und auch in Zeiten der Schulschließungen aufgrund der Corona-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 scheint sich nichts daran geändert zu haben und kaum jemand will erkennen, dass die Lösung der aktuellen Probleme nicht eine Rückkehr zum (idealisierten) Präsenzunterricht ist, sondern uns ein Virus, das mittlerweile mehrere Millionen Leben gekostet hat, auf die harte Tour zeigt, dass es so nicht weitergehen kann. Eine Korrelation zwischen Covid-19 und dem aktuellen Bildungswesen in Deutschland gibt es zwar natürlich nicht, aber das Virus hat nicht wenige Defizite innerhalb der Gesellschaft klar ins Rampenlicht gerückt.
Laut der JIM-Studie 2020 besitzen 96% der befragten Jugendlichen zwischen 12 und 19 ein Smartphone, 99% haben Zugang zu einem Smartphone und 89% sind täglich im Internet unterwegs. Der Großteil der Nutzung entfällt jedoch nach wie vor tendenziell auf den Konsum von Inhalten in den Bereichen der Unterhaltung und von Spielen, aber auch die Kommunikation ist mit 27% der gesamten Nutzungsdauer von durchschnittlich etwas mehr als vier Stunden pro Tag sehr wichtig. Nur 11% entfallen auf die Informationsbeschaffung, d.h. eine – im Sinne des heutigen Bildungsbegriffs – Nutzung des Internets, die die Produktion von Inhalten vorbereiten kann.
Wie die Jugendlichen die Zeit der Schulschließungen empfanden, wurde Ende 2020 im Rahmen der JIMplus 2020 Corona-Zusatzuntersuchung ermittelt. Die darin enthaltenen Informationen geben ebenfalls einen guten Überblick über den aktuellen (sehr ernüchternden) Stand der Dinge. Dass zu Beginn der Schulschließungen nicht alles perfekt funktioniert ist absolut verständlich, dass jedoch heute, fast ein Jahr später, immer noch nicht viele Veränderungen sichtbar sind, kann durchaus verwundern. Denn wie sehr man den Präsenzunterricht auch idealisiert und wie wichtig die sozialen Kontakte in der Schule auch sind, der Präsenzunterricht selbst hat in den meisten Fällen schon seit Jahren nicht gut funktioniert. Doch anstatt sich zu fragen wieso, wurde den digitalen Medien und den Jugendlichen die Schuld dafür gegeben.
Es ist deshalb endlich an der Zeit das lebenslange Lernen ernst zu nehmen, das aktuelle Bildungssystem kritisch zu beleuchten, Dinge auszuprobieren (wenn nicht jetzt, wann dann?!) und nicht nur Schule neu zu denken, sondern neu zu leben. Wenn Deutschland weiterhin in der internationalen Arena vorn mitmischen möchte, dann ist es höchste Zeit, die neuen Herausforderungen in Beruf und Alltag ernst zu nehmen und auch die Lebenswelt der Schüler, in der diese Entwicklungen längst angekommen sind, in der Schule einzubeziehen. Dass die Medien für sie wichtig sind, ist für sie keine Frage, wie sie damit richtig umgehen, wie diese Medien ihre Wahrnehmung beeinflussen und wie sie ihre Potenziale nutzen können, um zu lernen und sich an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligten, wird ihnen jedoch nicht in die Wiege gelegt.