360°-Bilder und -Videos gelten als ein einfacher Zugang zu Virtual Reality. 360° unterscheidet sich von „richtiger“ VR durch einen in der Regel niedrigeren Grad der Interaktionsmöglichkeit und der Begrenzung der Bewegung auf den Blick (3DOF). Von der reinen Nutzung fertiger Inhalte halte ich persönlich nicht viel, weil dies in der Regel in eine traditionelle Unterrichtsstunde eingebettet werden muss. Für mich nutzt das weder die Potenziale, die 360°-Inhalte haben können, noch glaube ich, dass diese Art der Nutzung einen allzu großen Lerneffekt hat. Auch sollten 360°-Inhalte nicht für das Ausfüllen von Arbeitsblättern missbraucht werden. Zu einer neuen Art von Medium gehört auch eine neue Art, damit umzugehen, um zukunftsorientiertes Lernen zu ermöglichen. Für mich ist die Verwendung von 360°-Inhalten als Basis einer gestalterischen Auseinandersetzung mit einem Thema weit lohnenswerter. Hier stellt sich dann aber recht schnell die Frage, wie 360°-Inhalte gefunden werden können, die frei verwendbar sind.
Prinzipiell habe ich gewisse Vorbehalte gegenüber der Verwendung von 360°-Videos in diesem Kontext. Das einzig vertretbare Lernszenario, das mir momentan dazu (in meinem Bereich) einfällt, ist das Drehen eines 360°-Musikvideos, beispielsweise in einem Austauschkontext, wie wir dies beim Projekt Grenzenlos: 360° Europa gemacht haben.
Abgesehen davon gibt es unterschiedliche Herausforderungen, mit denen man sich bei 360°-Videos konfrontiert sieht. Vor allem die Dateigröße von 360°-Videos kann schnell ins Unermessliche steigen und für sowohl Mobilfunknetz als auch eine schwache Internetverbindung, wie sie in Schulen noch häufig zu finden ist, ein Problem darstellen. Denn 360°-Videos zu bearbeiten, z.B. mit Tools wie ThingLink bedeutet, dass man das Video auf die Plattform hochladen muss und die Inhalte jedesmal auch wieder heruntergeladen werden müssen, wenn man sie anschauen möchte. Auch der Schnitt von 360°-Videos auf einem PC, z.B. mit Adobe Premiere oder den kostenlosen 360°-Editoren, die von einigen Kameraherstellern zur Verfügung gestellt werden, birgt Hindernisse, allen voran die notwendige Rechenleistung und der Export.
Was man ebenfalls bedenken muss: ein 360°-Video kann sehr schnell die Wahrnehmung überstrapazieren. Auch die Frage der Immersion ist eine berechtigte Frage: potenziell kann es noch vertretbar sein, ein 360°-Video mit einem Audio-Kommentar aus dem Off zu versehen und den Blick des Betrachters damit zu lenken. Doch kommt hier schnell die Frage auf, wozu man dann im Lernkontext überhaupt ein Video braucht. Sobald man vor hat, 2D-Elemente in das 360°-Video einzubauen, sollte man meines Erachtens auf Bilder umsteigen, den dies bricht die durch das Video erreichte Immersion für mich stark auf.
Fazit: Nur weil man es technisch gesehen kann, bedeutet dies nicht automatisch, dass 360°-Videos zum Lernen beitragen. Möchte man 360°-Videos machen, dann kommt man um eine 360°-Kamera nicht herum. Gute Erfahrungen habe ich mit der Insta360 X1 gemacht.
360°-Bilder kann man auf unterschiedliche Art und Weise finden bzw. selbst machen: Es gibt einige Portale im Internet, die vereinzelte freie 360°-Bilder anbieten. Dazu gehören FlickR (Lizenzangaben beachten!), Pixabay, Unsplash und Pixexid (mit Werbung, Lizenzangaben beachten!). Ob das Format jedoch das richtige ist, mit dem man in anderen Tools weiterarbeiten kann, ist hier nicht garantiert. Die meisten Tools geben an, dass sie ein 2:1-Format benötigen.
Mit iStreetView kann man theoretisch 360°-Panoramas von Google StreetView herunterladen (es gibt auch eine Software), jedoch verbieten die Guidelines von Google den Download – auch für Bildungszwecke. Allerdings haben Google StreetView-Panoramen in der Regel einen Hinweis auf die anzuwendende Lizenz. Wenn man dort Fotos findet, die unter einer Creative Commons-Lizenz stehen, darf man sie also verwenden, wenn man die Bedingungen berücksichtigt.
Um 360°-Fotos selbst zu machen gibt es mehrere Möglichkeiten:
- 360°-Kamera (die Fotos müssen meist in einer App gestitcht werden, bevor sie hochgeladen werden können; Anleitung bei ThingLink)
- Google Street View-App
- Fotoapp mancher Smartphones (die meisten Apps aus den Appstores sind entweder kostenpflichtig, teilweise mit In-App-Käufen, oder nicht zu gebrauchen)
- Canva
Auch bei 360°-Bildern muss man sich jedoch die Frage stellen, ob ihr Einsatz einen pädagogischen Zweck verfolgt und ob ihr Potenzial ausgereizt wird. In Projekten, bei denen die Immersion und das Erleben sinnvoll genutzt werden, spricht auf jeden Fall nichts dagegen. So z.B. wenn eine Schultour oder eine Stadtführung für eine bestimmte Zielgruppe erarbeitet wird. Dabei sollte man lediglich darauf achten, dass man alles, was die Immersion brechen kann, wohlbedacht einsetzt. So würde ich Videos und Bilder nur dann einsetzen, wenn sie unerlässlich sind, z.B. weil etwas zu weit weg ist, um es zu sehen. Wenn diese Objekte sehr wichtig sind, kann man also ein anklickbares Bild integrieren, das von einem Audio-Kommentar begleitet wird. Bei Videos wäre ich noch wählerischer. Ein sinnvoller Einsatz kann z.B. ein integriertes Interview mit den Schulsekretärinnen bei einer Schultour sein. Möchte man hingegen lediglich Videos, die an verschiedenen Orten in der Schule entstanden sind, präsentieren, bietet sich eher ein zweidimensionaler Raumplan der Schule an, auf der z.B. mit ThingLink oder My360° die Videos abgelegt werden. Ein 360°-Bild in diesem Kontext zu verwenden, wäre reine Spielerei. Das gilt übrigens auch für die Idee, mit dem Canva-Template eine 360°-Gallerie zu erstellen, denn die Potenziale der Immersion und des Erlebens sind hier nicht wirklich genutzt. Grundsätzlich gilt: nutzt man nicht die vollen 360°, sondern nur einen Ausschnitt, dann lohnt es sich in der Regel nicht, ein 360°-Bild zu verwenden.
Möchte man gar kein Lernprodukt im eigentlichen Sinne erarbeiten, sondern lediglich das Erleben mit z.B. dem Training der Sprechkompetenz in einer Fremdsprache verbinden, kann man übrigens Google StreetView und die dort verfügbaren Panoramen oder die App Wander mit einer VR-Brille verwenden. Z.B. können die Lernenden einen beliebigen Ort aussuchen und nach vorheriger Recherche oder auch kreativ-improvisierend präsentieren und so eine gemeinsame Weltreise machen – und dies sogar ortsunabhängig, sofern alle über VR-Brillen verfügen (z.B. durch eine Leihgabe).
Um 360°-Bilder und Videos mit interaktiven Hotspots zu versehen und Touren zu erstellen, gibt es eine Anzahl von Tools, zu denen ich bereits einen Artikel verfasst habe.
Bildquellen
- Stereografisches Bild: jeanborges | Pixabay